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Artikel in Süddeutscher Zeitung: Meinung

Ich war sprachlos, als ich den Artikel von Fr. Bigalke in der Süddeutschen Zeitung gelesen habe: „Moskau missbraucht das Gedenken an Leningrad“.


https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-wehrmacht-leningrad-weltkrieg-1.4300914


Ich bin Russin und meine Familie war von beiden Seiten – sowohl von der mütterlichen, als auch von der väterlichen – von der Leningrad-Blockade betroffen. Meine Verwandten sind am "Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof" begraben. Noch als Kind ging ich da oft mit meiner Familie hin und natürlich haben mich die Blockade-Geschichten zutiefst getroffen.


Mir wurde dabei kein Hass auf die Deutschen beigebracht; es waren die Faschisten, die uns angegriffen haben und es ist egal zu welcher Nationalität sie angehörten.

Umso mehr bin ich empört über die Aussagen einer deutschen Journalistin.


Erstmal wundert mich überhaupt, wie man es wagen kann, sich in solche Angelegenheiten anderer Völker einzumischen! Und die Feste und Sitten, die für ein anderes Volk wichtig oder sogar heilig sind auf diese verachtende Weise zu kritisieren. Das ist an sich schon eine Frechheit, aber wenn es um eine deutsche Journalistin geht, die den Russen erklären will, wie sie Krieg gegen die deutschen Faschisten „richtig“ beurteilen sollen, wird das schon ganz peinlich. Was kommt als nächstes – erklärt Frau Bigalke auch den Juden, wie sie den Holokaust am besten gedenken sollen?


Aber das ist nicht nur peinlich und skandalös, sondern auch von Lügen oder Unwissen geprägt.

Schauen wir genauer hin.

Die Blockade war ein Völkermord. Doch nach dem Krieg hatte keine der beiden Seiten viel Interesse, es auch so zu nennen. Die Machthaber in Moskau stellen die Belagerten bis heute als Helden dar, die den Deutschen tapfer widerstanden. Dass sich die Menschen vor Hunger kaum auf den Beinen halten konnten, dass sie Kleister und Katzen aßen und manche als Kannibalen bestraft wurden, wurde größtenteils erst in den Neunzigerjahren bekannt. Dass ihnen wohl auch Aufgeben kaum genützt hätte, wird bis heute selten oder gar nicht erwähnt.“


Entweder lügt Frau Bigalke oder sie hat schlicht und einfach keine Ahnung, worüber sie spricht. Noch zu Sowjet-Zeiten waren alle Fakten über die Leningrader Blockade offen und bekannt. Viele Russen wissen genau, wieviel Gramm Brot die Leningrader im Winter 1941 oder im Sommer 1943 bekamen, was die Ration eines Arbeiters war und was Angestellte erhielten. Frau Bigalke kann gerne selbst das kleine Museum in Piskarjowskoje besuchen, dort sind diese Zahlen genau aufgeführt und man kann sogar das winzige Stück Brot sehen, die Menschen als Tagesration bekamen. Es war lange vor den 1990er Jahren gut bekannt, dass fast alle Haustiere noch in erster Blockade-Winter geschlachtet und aufgegessen wurden (am Ende der Blockade war nach Leningrad sogar ein Extra-Zug mit Katzen geschickt worden, denn die Vierbeiner waren notwendig in Kampf gegen Nagetiere, die knappe Lebensmittelvorräte bedrohten). Wir wussten das immer, Frau Bigalke! Noch als Kind der 1970er habe ich das alles gewusst.


Macht das die Leningrader weniger heldenhaft? Wie kommt man darauf, dass das Leiden jemanden weniger heldenhaft macht? Ich dachte bis jetzt, es gehe darum, wie man sich bei den Leiden verhält, wie man sie erträgt.


Es war auch durchaus bekannt, dass es auch Kannibalismus gab, so etwas kann man ja nicht verbergen. Aber das wirft keinen negativen Schatten auf Verhalten aller anderen, weil es überall Verbrecher gibt.


Warum sieht Frau Bigalke ein Widerspruch zwischen „Völkermord“ und „heldenhaftes Verhalten“? Worin besteht dieser Widerspruch? Es gibt in der Geschichte eine ganze Menge Leute, die getötet wurden und sich dennoch heldenhaft verhielten, nehmen wir doch als Beispiel die christliche Märtyrer. Ja, die deutsche Faschisten haben auch in diesem Fall Völkermord begangen und das war in der Sowjetunion durchaus bekannt. Und die Menschen, die die deutschen Faschisten zum Tode verurteilt haben, waren Helden. Was passt hier nicht zusammen?


Und dann die nächste Frage: Waren die Leningrader Helden? Nach Meinung von Fr. Bigalke selbstverständlich nicht, sie waren nämlich nur die armen Opfer, die nicht wussten was sie taten und sowieso „keine Wahl hatten“.


Mir ist durchaus bewusst, dass, außer vielleicht einigen älteren Ostdeutschen, es in der BRD kaum jemandem bekannt sein dürfte, wie die sowjetische Menschen ihr Land verteidigt hatten. Allerdings sollte Frau Bigalke, eine gutbezahlte Journalistin, ihr Job etwas besser machen und sich zuerst erkundigen. Ich mache diese Arbeit für sie, nach meinem normalen Arbeitstag und schreibe hier ein paar Informationen auf, die in der BRD absolut unbekannt sind.

Waren nun die Leningrader Helden oder nicht?


- Man hatte natürlich nicht die Wahl, sicher. Man hatte aber ganz andere Wahlmöglichkeiten: ein Dieb oder Kannibale werden, die anderen berauben, in Depression fallen, hysterisch werden, nur an die Nahrung denken… oder in dieser schrecklichen Situation ein ganz normales Leben zu führen, zu arbeiten, zur Schule zu gehen, in Krankenhäusern die Verwundeten versorgen, den anderen Menschen zu helfen… bis man selbst umkippt und nicht mehr aufstehen kann.

Ich bin mir nicht sicher, ob jemand von uns sich in dieser Situation nur annähernd so verhalten könnte, wie die meisten – nicht alle, aber die meisten – Leningradanwohner.

- In der belagerten Stadt funktionierten Hunderte von Betrieben, es wurden Panzer, Waffen, Munition, Kriegsschiffe und vieles andere für den Front produziert. Die Arbeiter, oft auch die Arbeiterinnen, da viele Männer an der Front waren, konnten in dieser extremen Situation diszipliniert zur Arbeit kommen und die Kriegsproduktion sichern. Vielleicht denkt Frau Bigalke, sie wurden ja vom "bösen" Stalin dazu gezwungen und machten das nur unter Waffengewalt? Es wären aber dafür zu viele „Aufseher“ nötig, um so eine Masse verzweifelter Menschen zu irgendwas zu zwingen. Und natürlich war das nicht so. Die Arbeit ging wie immer, auch in dieser Situation.


- Mehrere Betriebe haben auch die Winterbekleidung für die Rote Armee produziert. Die Arbeiter der Fabrik „Proletarischer Sieg“ haben die Leningrader dazu aufgerufen, warme Bekleidung für die Soldaten zu sammeln. Und bis zum Winter haben die Leningrader für die Front mehr als 400 000 warme Kleidungsstücke gesammelt und genäht. Noch einmal: Das waren nicht die Menschen der „Wohlstandsgesellschaft“, das waren diejenigen sterbenden Menschen, die auch im Winter keine Heizung hatten. Und sie haben das freiwillig für die Front gegen die Faschisten gemacht.


- Es funktionierten auch die Schulen und die Kinder gingen täglich zum Unterricht, obwohl das ein oder andere Kind direkt in der Schulklasse für immer „eingeschlafen“ ist. Die anderen machten aber weiter, sie lernten ganz normal das Einmaleins oder Erdkunde. Nach der Schule gingen mehrere Jugendliche, die ihrer Heimatstadt helfen wollten, zum Dienst, die deutschen Feuerbomben an den Dächern abzufangen und zu löschen. Das waren Kinder im Alter von 14-15 oder sogar 12 Jahren. Die Mädchen halfen oft in Kriegslazaretten bei der Pflege der Verwundeten. Kinder bereiteten für die Soldaten auch Konzerte vor.


- Es funktionierten die wissenschaftlichen Zentren, die medizinische Versorgung – natürlich kostenlos und zugänglich für alle; es gab in der belagerten Stadt auch Kultur. Die Theater wurden bereits 1942 wieder geöffnet. Der berühmte sowjetische Komponist Schostakowitsch schrieb im belagertem Leningrad seine 7.Symphonie, die am 9.August 1942 in der Leningrader Philharmonie ihre Premiere hatte und es gab keine freien Plätze. Es geht, noch einmal, und die arme aushungernde Opfer, die klassische Musik hörten.


- Es gibt sehr viele Berichte und bewiesene Fakten über die Heldentaten einzelner Leningrader. So z.B. die Mitarbeiter des wissenschaftlichen Instituts der Pflanzenkunde. Sie blieben freiwillig in der belagerten Stadt , um die riesige Sammlung des Saatguts des Instituts zu sichern. Es gab dort mehr als genug Körner, um das ganze Team satt zu halten. Doch haben die Wissenschaftler kein einziges Päckchen mit Samen gegessen, obwohl drei von ihnen vor Hunger direkt auf dem Arbeitsplatz starben. Für sie war es aber wichtiger diese Pflanzenkulturen für das Land aufzubewahren, damit das Land nach dem Krieg wieder gute Sorten von Korn wiederherstellen kann. Oder war das die Ehre, die Ehrlichkeit, die Pflicht? Ich weiß nicht, was jeden von diesen Wissenschaftlern bewegt hat, ich weiß aber auch nicht, ob ich zu so etwas fähig wäre. Geschweige schon von Frau Bigalke, die sich anscheinend nicht mal so eine Frage gestellt hat.


Ich könnte über solche und anderen Taten der Leningrader noch lange schreiben, denn es gibt wirklich sehr viel Information darüber und es wundert mich, dass Frau Bigalke sich nicht die Zeit nahm, diese Informationen mindestens durchzuschauen.


Und ja, das ist keine Propaganda, ich bin eine erwachsene, schon ältere Frau und ich habe alles, was ich noch in meiner Kindheit hörte, mehrmals kritisch durchdacht. Und JA, ich muss sagen, für mich sind die Leningrader eindeutig Helden. Und es geht hier nicht um „Hitler aufgeben“ – diese Wahl hatten sie tatsächlich nicht. Es geht um ihr Verhalten, es geht darum, dass sie gearbeitet haben, in die Schule gegangen sind, die Kinder erzogen haben, die Verwundeten und Kranken heilten und pflegten, ihre Stadt verteidigten – OBWOHL sie starben, obwohl die Bomben auf sie fielen, obwohl der Hunger sie so quälte, obwohl sie ihre Kinder verloren haben. Ja, für mich waren das die Helden. Und sie verdienen es, als Helden gefeiert zu werden. Wenn Frau Bigalke das alles nicht wusste, dann macht sie ihren Job sehr schlecht. Spricht sie absichtlich so, obwohl sie alles weiß – ist sie eine Lügnerin.


„Wie muss sich das für die Überlebenden angefühlt haben, dass sie in Deutschland marginalisiert und in der Heimat mitunter zensiert wurden? Bis heute muss man in Russland aufpassen, was man über die Blockade sagt“.


Wie die Überlebenden sich fühlen, kann Frau Bigalke direkt vor Ort, da sie in Russland arbeitet, bei den Überlebenden selbst nachfragen. Es gibt mehr als genug schriftliche und andere Berichte davon. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der nicht stolz darauf war, bei diesen heldenhaften Taten mitzumachen. Auch wenn der Überlebende nur ein Kind war, auch wenn er „nur“ ein ganz normales Leben geführt und keine besonderen Taten vollbracht hat. Was wollen die Menschen, nach Meinung von Frau Bigalke, hören? Das sie unwissende, dumme Schäfchen sind, die der böse Hitler, zusammen mit Stalin, geopfert hat? Fühlt sich jemand dabei besser? Wohl kaum.


Unwahr ist auch, dass man in Russland „bis jetzt“ aufpassen muss, was man über die Blockade sagt. Ich habe das Russland der 1990er erlebt und damals waren alle diese Fragen – ob Stalin an der Blockade Schuld war, ob man die Stadt nicht lieber aufgeben sollte – nicht nur diskutiert, die wurden in jedem Blatt abgedruckt und nur ein ganz Fauler hat davon nichts gehört. Es gab ganze Reihe von Büchern und Artikeln, die z.B. Leningrader Leitung, die den Ersten Parteisekretär Schdanow scharf kritisierten. Angeblich hat er sich während der Blockade mit Torten bis zu Fettleibigkeit gefressen. Dass Stalin oder Schdanow „schuld“ waren, war in 90-ger fast Mainstream, war für alle gut bekannt. Man hat auch Gerüchte über Kannibalen, Diebe und dem schrecklichen NKWD ganz offen in Zeitungen gedruckt und im Fernsehen verbreitet.


Später aber wurden alle diese Fragen unter Historikern ausdiskutiert. Und es wurden einige Sachen festgestellt: z.B. genaue Menü von Schdanow, das keineswegs so üppig war, wie die Kritik dargestellt hat; die genaue Statistiken, die das Verhalten der meisten – es geht nicht um die Ausnahmen – Leningrad-Bewohner beschrieben. Oder den Befehl Hitlers Leningrad die Leningrader Bevölkerung soweit wie möglich zu vernichten, falls die Stadt aufgegeben wird, nicht anzuerkennen. Dieser Befehl zeigt, dass Stalin genauso wenig eine Wahl hatte wie die Leningrader selbst: Würde er die Stadt aufgeben, wäre Völkermord trotzdem passiert, nur auf eine andere Weise. Ich wiederhole es, es geht jetzt nicht darum, ob Stalin gut oder böse war: Er hatte auch keine Wahl.


Das ist alles in Russland durchaus bekannt und wissenschaftlich bewiesen. Und natürlich, wenn jemand nach diesen vielen Diskussionen auch weiterhin wissenschaftsfeindliche Gerüchte und Behauptungen verbreitet, klingt das schon ein wenig überaltert und nicht mehr glaubwürdig. Außerdem stoßt man auf Empörung, die auch die Machthabenden nicht so einfach wegpusten können.


Freiheit für Lügen gibt es heute in Russland durchaus. Dass man z. B. unglaubliche schlechte Filme wie den von Krassowski (hat Frau Bigalke ihn angesehen? Ich schon, aber kurz und konnte ihn aufgrund miserabler Qualität nicht lange schauen) nicht unbedingt in großen Kinos laufen lässt, ist noch kein Beweis für „Zensur“. Es laufen mehrere Filme in Russland, die den Krieg von ganz verschiedenen Seiten darstellen. Es gibt in Russland generell viel mehr Meinungsfreiheit, als in der heutigen BRD.


Leider vertragen die meisten der russischen Bevölkerung heute sehr schlecht solche „Wahrheiten“: Wir haben das alles schon mal gehört, verarbeitet, überlegt, Gegenbeweise verglichen und wir wollen das nicht mehr hören. Schließlich ist das nicht nur eine rein akademische Frage, es geht ja um unsere Vorfahren, um unsere Identität, die wir in den letzten 30 Jahren bereits mehrmals infrage stellten und nun haben wir mindestens einige Sachen genau festgestellt. Es geht nicht um „Moskau“ oder „Putin“, es geht um unsere Identität.


Und ja, wir sind stolz die Helden und Sieger über Faschismus als Vorfahren zu haben. Mir persönlich geht es nicht um die Nationalität, denn es waren für mich nicht die Russen gegen Deutschen, sondern sowjetische Menschen verschiedener Nationalitäten, die gegen den Faschismus gekämpft haben.


Dennoch wundert es mich, dass es im Artikel von Frau Bigalke darum geht Hitler zu relativieren. Denn ihr Versuch, Stalin genauso große Schuld am Völkermord in Leningrad zu geben, ist eine Relativierung faschistischer Verbrechen, eine lügnerische noch dazu.

Also, Frau Bigalke, Hände weg von fremden Kulturen, von fremden Helden und Opfern, von dem Gedankengut fremden Volkes. Was haben Sie damit zu tun? Eigentlich gar nichts! Genauso wie der Redakteur der SZ, der diesen skandalösen Artikel zugelassen hat.

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